Ein irrer Duft von frischem Heu

Kaum ein Passant, der im Vorbeigehen nicht einen neugierigen Blick durch die große Schaufensterscheibe in die Werkstatt wirft. Und die Kindergartenknirpse klettern sogar auf den Fenstersims, drücken sich an der Scheibe die Nasen platt und beobachten mit großen Augen, wie drinnen gehämmert und gesägt, genäht und geleimt wird. Meist kommt dann der Chef raus, verteilt Bonbons und Schokoriegel und erklärt, daß hier alte kaputte Sofas, Sessel und Stühle repariert, also wieder schön und brauchbar gemacht werden.

Andreas Gebhardt genießt solche Momente. Das gehört zu seinem Handwerk, sagt er, Werte bewahren, sie für die Nachkommen am Leben erhalten und – auch das – andere davon begeistern. Eine Herzensangelegenheit und Leidenschaft, seit seiner Jugendzeit.
Vor 20 Jahren kam er, nach einer Ausbildung in der Textilbranche, nach Berlin, um bei Meister Jünemann das Polstererhandwerk zu erlernen. In einem Friedrichshainer Traditionsunternehmen, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden war und das nach 1945 von den Brüdern Jünemann mit Laden und Werkstatt in der Kopernikus- bzw. Wühlischstraße weitergeführt wurde. 2004, nach mehr als 30 Jahren, ging Meister Heinz Jünemann in den Ruhestand und gab seinen kleinen Betrieb in die Hände von Andreas Gebhardt.
Für den heute 41jährigen ist das Erbe zugleich Verpflichtung. »Ich will die alte Handwerkertradition weiterführen, deshalb habe ich auch den Firmennamen des alteingesessenen Familienbetriebs nicht geändert, weil der allein schon für Qualität bürgt.« Dabei streichelt er die entblößte Rückenlehne einer alten Couch, die gerade aufgemöbelt wird, und schwärmt davon, daß in solch altem Möbelstück eine Seele steckt, ganz im Gegensatz zu vielen modischen Billigmöbeln, in denen sich höchstens der Zeitgeist widerspiegelt und die von der Ex- und Hopp-Gemeinde auch so behandelt werden.

Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, nicken die beiden Gesellen zu dem Gesagten. Und Detlef Patzak, der Altgeselle, der seit Anfang der 70er Jahre im Betrieb arbeitet, erinnert an Improvisationskunst und Erfindungsreichtum, um zu DDR-Zeiten eine Polsterei zu betreiben, etwa wenn damals von der Einkaufs- und Liefergenossenschaft nur drei Bezugsstoffe angeboten wurden.

Heute dagegen lagern in der Werkstatt Dutzende Stoffe und Muster, vom Tierfell-Imitat über Mohair bis zum klassischen Biedermeier und Jugendstil. Es werden nur Naturmaterialien verwendet, alles ist Handarbeit. Aber um ein Sofa wieder auf Vordermann zu bringen, genügt es nicht, husch-husch eine neue Schaumstoffplatte reinzulegen. Innerhalb von drei bis vier Wochen werden da Gurte gespannt, Federn geschnürt, Palmfasern – die übrigens einen irren Duft von frischem Heu verbreiten – aufgelegt und in Fasson gebracht, und schließlich wird mit Roßhaar, Polsterwatte und Vlies pikiert, wie es fachmännisch heißt.
Die Ergebnisse solcher Handwerkskunst sind durchaus öffentlich zu bewundern: etwa die himmlischen 50er Jahre-Barhocker im Cafe Schmitt's am Traveplatz, die Arbeitsstühle in der Grünberger Apotheke oder der von TV-Moderatorin Sabine Christiansen. In Kürze wird sich wohl auch der antike Schreibtischsessel in der Chronik-Redaktionsstube von seinem durchgesessenen Polster verabschieden müssen.

Quelle: Manfred Rebner auf der Website der Friedrichhainer Chronik

www.friedrichshainer-chronik.de